Staatskanzlei

Noch viele Bomben im Boden: Woidke, Scholz und Schröter beim Start der Modellregion in Oranienburg

Kampfmittelbeseitigungsdienst übernimmt zusätzliche Aufgaben

veröffentlicht am 30.07.2019

Zum Start des Pilotprojektes „Modellregion Oranienburg" machten sich heute in Oranienburg Ministerpräsident Dietmar Woidke, Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Innenminister Karl-Heinz Schröter gemeinsam mit Bürgermeister Alexander Laesicke und Landrat Ludger Weskamp ein Bild der Lage vor Ort. 

Ministerpräsident Dietmar Woidke: „Die Kampfmittelbeseitigung ist eine Generationenaufgabe. Sie kostet immense Summen. Für die Beseitigung des Kriegserbes stellte das Land Brandenburg seit 1991 über 400 Millionen Euro zur Verfügung und machte sich wiederholt für eine Übernahme der Kosten für die Beseitigung von alliierten Kampfmitteln durch den Bund stark. Ich begrüße ausdrücklich, dass auch der Bund seine Verantwortung für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkennt und bis zur Hälfte der Kosten für die Beseitigung alliierter Munition übernimmt.

Den Ländern ist es gelungen, eine Verlängerung und Ausweitung der Richtlinie zu bewirken. Zugleich bin ich der Auffassung, dass das nicht ausreicht. Wir brauchen eine Verstetigung der Mittel oder ein Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz. Das ist auch wichtig vor dem Hintergrund der Munition auf ehemaligen Truppenübungsplätzen und belasteten Waldflächen, und zwar nicht nur in Brandenburg."

Bundesfinazminister und Vizekanzler Olaf Scholz: „Der Bund unterstützt die Länder auch in den kommenden Jahren finanziell bei der Räumung alliierter Kampfmittel: Bis 2021 stehen dafür im Bundeshaushalt 60 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geld muss von den Ländern rasch eingesetzt werden. Es ist gut, dass das Land Brandenburg mit der ‚Modellregion Oranienburg‘ vorangeht und die Bevölkerung in einem besonders betroffenen Gebiet damit noch besser schützt."

Innenminister Karl-Heinz Schröter: „Der Zweite Weltkrieg wirft noch immer einen langen Schatten. Oranienburg ist wie keine andere Stadt in Deutschland von Blindgängern mit chemischen Langzeitzündern betroffen. Es hat in Oranienburg bereits Selbstdetonationen gegeben, und das Risiko steigt von Jahr zu Jahr. Die Modellregion ist ein wirksames Instrument, um die Beseitigung der Bomben zu beschleunigen. Ich danke vor allem Ministerpräsident Dietmar Woidke und dem Landtagsabgeordneten Björn Lüttmann. Ohne ihr jahrelanges Engagement und ihre Beharrlichkeit hätte es weder eine ‚Modellregion Oranienburg‘ noch eine - wenn auch sicherlich ausbaufähige - Beteiligung des Bundes an den Kosten für die Beseitigung alliierter Munition gegeben. An diesem Thema müssen wir auch weiterhin dranbleiben. Dieses Engagement hat sich gelohnt - und den Nutzen haben die hartgeprüften Einwohner der Stadt Oranienburg, in der das gefährliche Erbe des Zweiten Weltkriegs immer noch so präsent ist wie nirgendwo sonst in Deutschland."

Oranienburgs Bürgermeister Alexander Laesicke: „Oranienburg ist dankbar, dass durch die ‚Modellregion Kampfmittelsuche‘ der in Deutschland einzigartigen Belastung unserer Stadt Rechnung getragen wird. In den kommenden Jahren liegen weitere Herausforderungen vor uns. Dazu zählen die Verstetigung der finanziellen Förderung der systematischen Kampfmittelsuche oder für wasserfreie Bergegruben, eine noch bessere Abgrenzung der Zuständigkeiten, eine bessere Verzahnung der Abstimmungen zwischen den Behörden und insgesamt eine weitere Beschleunigung der Suche. Gerade in jüngerer Vergangenheit erkennen wir jedoch den deutlichen Willen, gemeinsam Lösungen zu finden."

Die Stadt Oranienburg (Landkreis Oberhavel) ist vom 1. August an - bundesweit einzigartig - Modellregion bei der Kampfmittelbeseitigung. Der Zentraldienst der Polizei Brandenburg mit seinem Kampfmittelbeseitigungsdienst (KMBD) wird als Sonderordnungsbehörde auf dem Gebiet der Stadt Oranienburg probeweise für drei Jahre zusätzliche Aufgaben übernehmen, um die Kampfmittelbeseitigung und Bombenentschärfung noch effektiver zu organisieren.

Neu geregelt wird unter anderem, dass der Kampfmittelbeseitigungsdienst Räumverfahren von gewerblichen Kampfmittelräumfirmen freigeben muss und die fachgerechte Ausführung der Kampfmittelbeseitigung kontrollieren kann. Die Kampfmittelfreiheitsbescheinigung stellt außerdem nur noch der KMBD mit seinen Experten aus.

Darüber hinaus ist es der Stadt Oranienburg freigestellt, auch bei niedrigeren Gefahrenlagen tätig zu werden. Hierbei kann das Land die Stadt Oranienburg finanziell unterstützen. Der Zentraldienst der Polizei erhielt mit dem Doppelhaushalt 2019/2020 für den KMBD 13 zusätzliche Stellen und die dafür erforderlichen Haushaltsmittel. Insgesamt sind für die Jahre 2019 und 2020 jetzt rund 4 Millionen Euro zusätzlich für Personal- und Sachkosten vorgesehen. Landesweit stehen dem Kampfmittelbeseitigungsdienst 2019 insgesamt 15,4 Millionen Euro und 2020 insgesamt 16,4 Millionen Euro für die Aufgabenerfüllung zur Verfügung.

Die besondere Situation in Oranienburg

Viele deutsche Städte wurden im Zweiten Weltkrieg genauso stark bombardiert. Oranienburg als Standort von chemischer Industrie und von Rüstungsbetrieben machten die Stadt zum vorrangigen Ziel der Luftangriffe der Alliierten. Die besondere Situation in Oranienburg ist der ungewöhnlich hohe Anteil an Großbomben mit chemischem Langzeitzünder. Die Blindgängerquote bei Bomben mit chemischem Langzeitzünder war höher als bei Bomben mit anderen, herkömmlichen Zündern. Allein beim schwersten Bombenangriff auf die Stadt am 15. März 1945 gingen 5.690 Großbomben nieder, mehr als 4.000 davon mit chemischem Langzeitzünder. Die über Oranienburg abgeworfenen Fünf- und Zehn-Zentnerbomben mit chemischem Langzeitzünder sollten erst 12 bis 48 Stunden nach ihrem Aufprall zünden, um nicht nur die industrielle Infrastruktur zu zerstören, sondern auch demoralisierend auf die Bevölkerung zu wirken.

Ein Gutachten der BTU Cottbus ging im Jahr 2008 auf Basis eines Rechenmodelles davon aus, dass noch über 300 Blindgänger im Oranienburger Boden liegen. Die tatsächliche Anzahl der noch vorhandenen Bomben kennt allerdings niemand genau. Verlässliche Dokumentationen über Bombenfunde und Entschärfungen sind erst seit 1991 vorhanden. Über die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre sind praktisch keine Unterlagen vorhanden. Die Dokumentationen der Jahre bis zur Wiedervereinigung sind - soweit noch existent - lückenhaft oder gar unzutreffend.

Seit 2008 hat allein das Land im Ergebnis von rund 1.500 Landesaufträgen mehr als 300 Hektar in der Stadt Oranienburg von Kampfmitteln räumen lassen, wobei das Auftragsvolumen bei über 45 Millionen Euro lag und 64 Großbomben geborgen wurden. Nach Angaben der Stadt Oranienburg konnten von den städtischen Flächen innerhalb des Zeitraumes von 2010 bis 2018 rund 98 Hektar aus dem Kampfmittelverdacht entlassen werden. Vom Bund hat Brandenburg aus einer Richtlinie des Bundesfinanzministeriums seit 2015 rund 4,1 Millionen Euro für die Kampfmittelbeseitigung erstattet bekommen. Davon gingen rund 1,25 Millionen Euro nach Oranienburg.

In einer besonderen Lage ist auch die Freiwillige Feuerwehr Oranienburg. Durch häufige Sperrungen und Evakuierungen wegen Bombenfunden ist sie besonders stark belastet. Im Jahr 2018 wurde die Feuerwehr der Stadt zu 642 Einsätzen gerufen. Darunter waren 182 Alarmierungen zu Bränden, 410 zu Hilfeleistungen und 50 sonstige. Seit 2007 erhielten die Stützpunktfeuerwehren des Landkreises Oberhavel rund 3,4 Millionen Euro Fördermittel des Landes. Aus dem Förderprogramm „Kommunale Infrastruktur (KIP) erhielt der Landkreis 2,1 Millionen Euro. Die Feuerwehr Oranienburg hat rund 230 aktive Mitglieder in der Einsatzabteilung (davon 29 hauptamtliche Kräfte) sowie 124 Mitglieder in der Jugendfeuerwehr und 78 in der Alters- und Ehrenabteilung.