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Rohtabakfabrik Vierraden

Foto: roter Backsteinbau
Tabakfabrik. Foto: Harald Bethke

Schwedter Straße 19/20, Ortsteil Vierraden, 16303 Schwedt/Oder

In exponierter Lage am Rande der ehemaligen Tabakstadt Vierraden steht das weithin sichtbare rote Backsteingebäude der ehemaligen Rohtabakfabrik,  Schwedter Straße 19–20. Die imposante Architektur zeugt vom wachsenden Umfang des Tabakhandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Erbauer war der Tabakgroßhändler August Lange.

Der Vater Gustav Lange kam aus Sachsen und ließ sich in Vierraden als Sattlermeister nieder. Seine beiden Söhne Gustav und August beschäftigten sich bereits in ihrer Jugend mit dem Verkauf von Tabak. Zu jener Zeit kamen jüdische Tabakhändler aus Berlin nach Vierraden und kauften hier Tabak auf. Die beiden Lange-Söhne gingen ihnen dabei zur Hand und es dauerte nicht lange, da kauften sie selbst Tabak auf.

Der Handel expandierte. August Lange ließ daraufhin zwischen den Jahren 1875 und 1880 den Tabakspeicher, die Villa als Familienwohnsitz und das Arbeiterwohnhaus erbauen. Sein Bruder ging als Tabakhändler nach Berlin.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Tabakfabrik an eine Tabakgenossenschaft verpachtet. 1923 ging sie in den Besitz der jüdischen Berliner Kaufleute Elias Assiran und Max Meyer über. Seitdem wurde in dem Speicher kein Tabak mehr gelagert bzw. fermentiert. Der Speicher diente zur Lagerung von Getreidevorräten.

Nach 1946 wurde der Speicher von der VdgB BHG (Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe; Bäuerliche Handelsgenossenschaft) als Getreidespeicher verwendet. Ab 1950 entstanden in dem Speicher eine Bank  (Genossenschaftsbank) und ein Ladengeschäft der BHG. Ab 1989 stand das Gebäude leer.

Foto: Raum mit Ausstellungswänden
Ausstellung in der Tabakfabrik (Foto: 2006)
1995 erhielt die Jewish Claims Conference den Speicher mit der Villa als ehemals jüdisches Eigentum zugesprochen. Der Berliner Architekt Klaus Hirsch erwarb 1999 den Speicher mit Villa und gründete den Verein kunstbauwerk e. V., um die Denkmale zu retten. Seitdem erfolgt die schrittweise Sanierung. Speicher und Villa werden heute als Ausrichtungsort für Symposien deutsch-polnischer und internationaler Zusammenarbeit sowie für Jugendbegegnungen genutzt. Insgesamt können derzeit bis zu 26 Personen während und zwischen den Veranstaltungen in der Tabakfabrik übernachten.

Tabakspeicher

Der großdimensionierte, durch seine Höhe weithin sichtbare Tabakspeicher ist Kernstück und Dominate der Anlage. Er diente zur Lagerung, Fermentation und Weiterbearbeitung des damals in der Region großflächig angebauten Tabaks. Das Speichergebäude ist ein fünfgeschossiger, kräftig roter Ziegelbau mit aufwändigem Ziegelmauerwerk. Den Abschluss bildet ein relativ flach geneigtes, schiefergedecktes Satteldach. Seine besondere architektonische Wirkung bezieht der Speicher nicht nur aus seinen Dimensionen, sondern  auch aus den reich, in historisierenden Formen gestalteten Fassaden, die zum eindrucksvollen Erscheinungsbild beitragen. An den Längsseiten gliedern hochrechteckige, zumeist paarig angeordnete Stichbogenfenster die Wandflächen, wobei die beiden mittleren Geschosse durch aufwendiger gestaltete Brüstungsfelder besonders betont sind. Den horizontalen Aufbau bestimmen von schmückenden Ziegelfriesen begleitete Gesimse. Zur Straßenseite sind die beiden mittleren Achsen als Risalit ausgebildet, darüber erhebt sich ein Stufengiebel. Ähnlich wie an den Längsseiten sind auch die giebelseitigen Fassaden ausgebildet. Im Zuge der Umnutzung als Begegnungsstätte vom Verein kunstbauwerk e. V. wurden die hölzernen Fensterläden entfernt und Glasfenster eingesetzt.

Zum wirkungsvollen Gesamtbild der Architektur tragen die an allen vier Gebäudeecken platzierten schlanken Pfeiler bei. Sie ragen turmartig über das Hauptgesims hinaus und werden durch ein Kranzgesims abgeschlossen. Vorhanden ist auch ein originalgetreuer Nachbau des, ebenfalls in historisierenden Formen gestalteten Eingangstores.

Ausgesprochen schlicht, durch die Größe und das vollständig in Holz ausgeführte konstruktive Gefüge aber beeindruckend, präsentiert sich das in fünf Ebenen unterteilte Innere des Tabakspeichers. Die einzelnen Arbeitsböden sind über zwei etwa mittig im Gebäude angeordnete Treppen begehbar bzw. konnten mit Hilfe des sich gleich daneben befindlichen kleinen Lastenaufzugs beschickt werden. In die Dielung der Arbeitsböden nachträglich eingebrachte Riesellöcher verweisen auf die spätere Umnutzung des Gebäudes als Getreidespeicher. Das Gebäude ist nicht unterkellert.

Villa

Bei der zwischen Speicher und Straße angeordneten ehemaligen Familienvilla des Tabakgroßhändlers handelt es sich um einen über hohem Sockel eingeschossig ausgeführten traufständigen Putzbau mit Satteldach auf hohem Kniestock. Seine vormals in reichen spätklassizistischen Formen gestaltete straßenseitige Fassade erfuhr in der Vergangenheit erhebliche Überformungen, so dass der herrschaftliche Anspruch der Architektur nur noch bedingt ablesbar war.  In größerem Umfang hat sich die Putzgliederung an der nördlichen Giebelseite erhalten.

Zum Haus gehört ein großer Vorgarten zur Straße hin. Der Standort der Unternehmervilla auf dem Fabrikgelände entspricht den patriarchalischen Ansichten des Bauherrn.

1966 wurde die Villa umgebaut, eine Kindertagesstätte und die Schulspeisung zogen ein. Im Jahr 2012 konnte die Sanierung dieses Gebäude einschließlich einer denkmalgerechten Wiederherstellung der stark plastischen Fassadengliederung abgeschlossen werden. Seit dem wird die Villa von kunstbauwerk e. V. als Seminar- und Verwaltungsgebäude sowie zur Beherbergung von Gästen betrieben.

Arbeiterwohnhaus

Nur wenige Meter nördlich der Villa erstreckt sich als zweigeschossiger, aus roten Backsteinen bestehender Ziegelbau mit Satteldach das für zwölf Arbeiterfamilien konzipierte Arbeiterwohnhaus. Die Wohnungen bestanden aus einer Stube, Küche und einer Kammer. Dies entsprach dem Standard der Landarbeiter-Wohnhäuser zu jener Zeit. Das Wohnhaus wurde in der Zeit des Sozialismus als „roter Socken“ tituliert. Es wird gegenwärtig als Wohnhaus genutzt.

Im Denkmalensemble ist insbesondere die Verbindung traditionell ländlicher Bauformen mit Elementen städtischer Industriekultur hervorzuheben.